Die Winnetou-Trilogie
Für einen Verlag, der nur einen einzigen Autor hat, ist der Karl-May-Verlag äußerst rührig. Man denkt, als nicht vorbelasteter Leser, dass seit 1892, dem Vorwort zu Winnetou I, eigentlich nichts mehr Neues dazu verfasst werden kann. Das sind immerhin 126 Jahre. Aber der Karl-May-Verlag schafft es immer wieder, Neues auszugraben oder zu erschaffen, das neugierig macht und dazu auch noch gut geschrieben ist. Denn wissenschaftliche Werke haben immer mal das Problem, das sie einfach nicht lesbar oder gar unterhaltsam sind. Das ist hier völlig anders. Helmut Schmiedts wissenschaftliche Arbeit, über die Entstehung der Winnetou-Romane, ist fundiert und unterhaltsam. Zumindest für Leser, die sich für dieses Thema interessieren.
Der Autor unterteilt dabei die Struktur in folgende Kapitel: Entstehung und Struktur, Realität und Fiktion, Erzählen, Interkulturelle Beziehungen, Männer und Frauen, Westmänner, Vom 18. ins 20. Jahrhundert, Karl May nach Winnetous Tod, Winnetou nach Karl Mays Tod.
Die Entstehungsgeschichte der Winnetou-Trilogie ist ein wenig anders, als z.B. Der Orient-Zyklus, beginnend mit »Durch die Wüste«. Das Ziel des vorliegenden Werkes, liegt darin, eine möglichst umfassende, perspektivenreiche Analyse zu erarbeiten: Wie ist er entstanden? Wie erzählt May? Wie geht er mit der historischen Realität um? Mit welcher Tendenz schildert er die Angehörigen verschiedener Länder und Kulturen, deren Mit- und Gegeneinander den Kern der Handlung bildet und seinem Ruf als »Abenteuerschriftsteller« im Wesentlichen begründete? Welches Bild von den Geschlechtern zeichnet der Autor, und wie ist es um die sogenannten »Westmänner« bestellt, eine Spezies von Menschen, die es sonst eigentlich gar nicht gibt, die May selbst aber in den Mittelpunkt des Geschehens rückt? Schließlich: Wie ist das Werk literaturhistorisch einzuordnen, und wie ist man nach dem Tod des Autors - von der erwähnten quantitativen Wirkung abgesehen - mit ihm umgegangen (S. 13)? All diese Punkte spiegeln sich natürlich in der Struktur dieses Buches wieder, wie man an den Kapitelüberschriften deutlich sieht.
Für seinen damaligen Verleger Fehsenfeld, sollte nach den Orientromanen ein Wild West Abenteuer entstehen. May entscheidet sich zuerst für einen Zweiteiler, dann aber doch für eine Trilogie. Deren Komposition - im doppelten Sinne als Erstellung des Textes uns als deren Ergebnis - gestaltet sich überaus heikel und kompliziert. Während May den ersten Band weitestgehend neu schreibt, füllt er die Bände zwei und drei überwiegend mit verschiedenen älteren Erzählungen, die er im Hinblick auf den jetzigen Zusammenhang natürlich verändern muss, und ergänzt sie um einige Kapitel, mit denen er sinnvolle Übergänge und Ergänzungen zu schaffen und eine harmonische Verbindung im Sinne einer schlüssig fortlaufenden Handlung herzustellen versucht (S. 19). Die daraus entstehenden Probleme sind daran zu erkennen, dass er einerseits den Untergang des roten Volkes beklagt und seine eigene christliche friedvolle Einstellung beschreibt, aber gleichzeitig in den Bänden zwei und drei überaus brutale, und dem friedlichen Miteinander abträgliche Vorgänge beschreibt, die eben bedingt durch die alten Stoffe irgendwie miteinander verbunden werden müssen. Irgendwie gelingt ihm dieser Spagat, und schafft es so, einerseits seine friedlichen Überzeugungen darzulegen, andererseits aber auch einige harte und brutale Wesenszüge seines wilden Westens zu erzählen, ohne gleich unglaubwürdig zu erscheinen.
Schmidt redet meist nicht vom Autor Karl May, sondern vom Ich-Autor. Dieser lädt sich auf mit mythologisch und religiös inspirierten Bestandteilen, die schon lange vorher zur Schilderung herausragender Persönlichkeiten dienten und das noch bis in unsere Zeit tun. Ins Zentrum des Werkes rückt damit ein ich, wie es in der Kulturgeschichte wohl noch nie eins gegeben hat, und dass dieses ich dann auch noch, was die Literatur betrifft, über den einen Roman hinaus als Serienfigur etabliert und in der empirischen Realität des Schriftstellers May einem Massenpublikum mit großem Applaus vorgeführt wird, macht das Ganze erst recht zu einem einzigartigen Fall (S. 78). Für den Leser ist dies zuerst ein wenig irritierend, geht es doch eigentlich um die Entstehung der Figur Winnetou und der Trilogie. In seinem Buch erzählt Schmiedt aber sehr viel über Karl May und seine Ich-Figur Old Shatterhand. Dabei geht er z.B. genüsslich auf den Begriff »Greenhorn« ein.
Der Held beweist mit seiner rasanten Karriere vom Greenhorn zum omnipotenten Westmann weniger, dass er schnell zu lernen imstande ist, als dass er - sei es aufgrund früherer Erfahrungen und Übungen, sei es aufgrund angeborener Begabung - von vornherein über die erforderlichen Fähigkeiten verfügt und sie im geeigneten Moment anzuwenden vermag; seine Charakterisierung als Greenhorn erweist sich insofern als trügerisch (S. 86).
Winnetou spielt in einer dem Leser fremden, fernen Welt. Damit er sie akzeptiert und sich in ihr wohlfühlt, muss der Autor sie überschaubar gestalten und ihr klare Konturen verleihen. Diesem Ziel dienen, auf der Ebene der erzählerischen Arrangements, in erster Linie die verschiedenen Ausformungen der Wiederholung, denn Wiederholungen stiften Bekanntheit und Vertrautheit. Damit aus der Wiederholung nun aber nicht Langeweile resultiert, die andere elementare Folgeerscheinungen des immer gleichen, wendet der Autor zwei weitere Verfahren an. Zum einen werden dem was sich kontinuierlich wiederholt, radikale interne Variationen zugeordnet, (S. 95), wie zum Beispiel die Verfolgung und das Anschleichen. Zum anderen erzählt May konsequent zukunftsorientiert: Nahezu alles, was geschieht, stellt sich dar als Vorbereitung und Ankündigung weiteren Geschehens, und da dieses Geschehen durchweg im schlichtsten Sinne spannend erscheint und sich eben nicht in simplere Repetition (lat. Wiederholung) erschöpft, wird der aufmerksame Leser immer weitergetrieben (S. 95/96).
Wer den Winnetou aufmerksam liest, bewegt sich also auch rhetorisch keineswegs durch ruhig dahingleitendes Wasser. Die einmontierten Besonderheiten „zersetzen die Sprache, indem sie sie durchsetzen, bringen die Satzfolge so in Unordnung, wie der Abenteurer die gesellschaftliche Ordnung verunsichert“ (S. 110). Und das ist eines der Dinge, die Karl May auch heute noch so unglaublich faszinierend und Spaß beim Lesen machen.
Der Autor Schmiedt beleuchtet dabei auch die Herkunft und die Zeit, in der die Winnetou-Trilogie entstand, zu der später auch der Band „Weihnacht“ gehörte, den Karl May damals einfach „Winnetou IV“ betitelte. Der Umbruch vom Optimismus der didaktisch-aufklärerischen Literatur im 18. Jahrhundert zu den Umbrüchen in Kultur und Politik des 20. Jahrhunderts, brachte viel Unsicherheiten für die Menschen, die sich auch in den Spätwerken Mays widerspiegelt. So wurden selbst Eröffnungstexte in den unterschiedlichsten Jahren verändert, erweitert und schließlich wieder dem Original angeglichen.
Unter diesen Umständen gewinnt eine Wirkungstruktur, die bei anderen Autoren ebenfalls zu finden ist, eigene Qualität. Sie wird noch dadurch befördert, dass nicht etwa nur die Leser und Kommentatoren des Romans sich in höchst unterschiedlichen Richtungen bewegen, sondern auch diejenigen, die produktiv-kreativ mit Mays Text umgehen. Der Maßstab, nach dem sie dies tun, leitet sich jeweils aus zeitgenössischen Dispositionen ab (S. 278).
Dies ist, wie schon erwähnt im textlichen Bereich geschehen, wie auch im filmischen. Die Filme der 60er Jahre entfernten sich sehr weit vom Original, ebenso wie die zuletzt erfolgte Neuverfilmung, die deutlich durch die zeitlichen Umstände beeinflusst wurden. So hat jede Zeit ihre Attraktivität auf die Romane von Karl May ausgeübt. Um diese Wirkung angemessen würdigen zu können, bedarf es allerdings der Kenntnis des zugrunde liegenden Romans. … Man sollte ihn - vielleicht wieder einmal - lesen, aufmerksam und mit der Bereitschaft, als intellektuelles und ästhetisches Vergnügen auch Qualitäten wahrzunehmen, die zum erheblichen Teil außerhalb der Bahnen angesiedelt sind, in denen sich die Hochliteratur traditionsgemäß bewegt. Es lohnt sich (S. 291).
Dem bleibt eigentlich nichts hinzufügen. Angesichts dieses wissenschaftlichen Werkes, habe ich meine Ausgabe, mit der Übersetzung von 1951, einmal hervorgekramt. Dieses Buch habe ich in den letzten 49 Jahren mindestens sechs mal gelesen und hatte immer viel Unterhaltung dabei. Jedes Mal habe ich andere, neue Entdeckungen gemacht, denn auch ich bin gealtert und habe jeweils eine andere Sicht zu einer anderen Zeit auf den Roman gehabt. Aber der Spaß an den Abenteuern in Mays Wildem Westen, war immer vorhanden.
Dazu gitb es jetzt auch eine YouTube Besprechung. Bitte hier klicken.